Wege der Beschleunigung
Geschwindigkeit im vorrevolutionären Russland.
Die territoriale Expansion des russischen Reiches unter dem Blickwinkel der »Modernisierung« zu bestimmen, hat sicherlich nur teilweise seine Richtigkeit, wenn nämlich damit bloß die Verschränkung der neu hinzu gewonnenen Ressourcen und der hierüber entstehenden neuen administrativen ökonomischen oder politischen Institutionen gemeint ist. Denn die effiziente »Pflege« dieser Verschränkung hängt in hohem Maße von der raschen Erreichbarkeit und Verfügbarkeit jener abgelegenen Ressourcen ab - welche diese auch immer sein mögen. "Je schneller du fährst, desto besser für dich", lautet da auch ein russisches Sprichwort und spricht damit - sei es willentlich oder unwillentlich - eine Weisheit aus, der man nahezu prophetischen Charakter hätte zubilligen können: »Geschwindigkeit« zahlt sich in jeglicher Hinsicht aus, weil sie vor allem Nähe schafft. Und solch eine Nähe ist für die Herrschaftsdurchdringung eines Staates mit dieser immensen geografischen Ausdehnung, wie sie in Russland anzutreffen ist, unerlässlich. Es liegt daher nahe, dass sich gewissermaßen die »Geschichte der russischen Raumdurchdringung« durch zwei sich entgegenstehende, doch komplementäre Bewegungen begreifen lässt: Vollzieht sich die Ausholbewegung der territorialen Expansion in einer rein räumlichen Dimension, so scheint die Einholbewegung der zum Großteil herrschaftlich motivierten Distanzverringerung sich in eine zeitliche umgewandelt zu haben.
Das Ziel dieses Dissertationsvorhabens liegt genau in dieser Aufdeckung einer auf der zeitlichen Ebene stattfindenden Raum- oder Distanzverringerung, deren Einforderung wiederum verschiedenen Motivationen entspringt. Man kann also den Versuch der »Raumverkürzung« aus einer Geschichte der Zeit bzw. der Zeitkonzepte heraus begreifen. Verlängert man nun dieses Phänomen der »Raumverkürzung« bis in unsere Tage, so tritt eine weitere Besonderheit in Erscheinung: Stellt heute der räumliche Vektor nahezu kein ernsthaftes Problem mehr dar, da die verschiedenen geographischen Punkte in einem Netz der Gleichzeitigkeit verschaltet werden, welches raumbedingte Ungleichzeitigkeiten und Retardierungen fast ausschließt, so lässt sich zugleich auch das langsame Wegbrechen einer lange Zeit wirksamen Spannung feststellen, jener nämlich zwischen Zentrum und Peripherie. Die heute so beobachtbare großflächige Demontage dieses Antagonismus' nimmt allerdings paradoxerweise gerade im wirksamen Gegensatzpaar Zentrum/Peripherie - getragen und sichtbar eben durch das Fänomen »Geschwindigkeit« bzw. »Beschleunigung« - seinen Anfang. Einen deutlichen Ausdruck findet dies in der »raumzeitlichen« gedachten Fortschrittsidee, die in der optimaleren organisationellen Verzahnung der Kommunikation bzw. des Transports und der Erhöhung deren bzw. dessen Geschwindigkeit zu unterschiedlichen Zwecken besteht, zumal "»Verkehrsordnung« ein System der Raumverwaltung, und damit auch ein System der Verwaltung von Zeit [ist]" (Helmut Lamprecht). An diesem Punkt möchte diese Untersuchung ansetzen, indem sie sich das Verkehrs- und Transportwesen in Russland wählt. Das Transportwesen stellt nämlich den historischen Schnittpunkt vor, in dem Bewegung und Stillstand aufeinandertreffen - dieses in Form des Fänomens der permanenten »Raumpräsenz«, d.h. der anhaltenden Zentrum-Peripherie-Spannung, jenes in Form des Fänomens der »Raumverkürzung«, d.h. der beschleunigten oder zu beschleunigenden Zeit.
Anhand des russischen Verkehrs- und Transportwesens und anhand speziell ausgewählter, dringlich zu befördernder Güter soll im Zeitraum von ca. 1700 bis 1917 insbesondere ausgeleuchtet werden, wie »Geschwindigkeit« im Anspruch gewissermaßen produziert und potenziert wird. Der angesetzte Zeitraum lässt sich dadurch begründen, dass zum einen mit Peter dem Großen eine breit angelegte Kommunikationsregulierungsoffensive gestartet wird und dass zum anderen in diesen Zeitabschnitt die Übergangsfase vom Langsamen als Sinnbild des Organischen zum Schnellen als Sinnbild des Mechanischen fällt, dem vor allem das Hauptaugenmerk des Projekts gelten soll, d.h. dem Ende des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus gilt es zu erfragen, wie die dafür bereit gestellten Mittel - d.h. sowohl in administrativ organisatorischer als auch in technischer Sicht - aussehen und inwieweit dies den tatsächlich auftretenden Anforderungen genügen konnte, wie sich die Ansprüche im Laufe der Zeit hinsichtlich der Wahrnehmung der Phänomene »Geschwindigkeit« resp. »Beschleunigung« veränderten und schließlich inwieweit diese raumzeitliche Größe in die Diskussion um die Modernisierung Russlands integriert werden kann.
Roland Cvetkovski